70 Jahre Kriegsende: Mahnung für alle Zeit

Gedenkstunde im Bundestag

Foto: Bundesregierung/Bergmann
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Quelle: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 

Bundestag und Bundesrat haben in einer gemeinsamen Gedenkstunde an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert. Der Historiker Winkler mahnte alle Deutschen, sich der Geschichte des Landes im Ganzen zu stellen. An der Gedenkstunde im Bundestag nahmen Kanzlerin Merkel und zahlreiche Kabinettsmitglieder teil.

Die Gedenkstunde im Bundestag eröffnete Bundestagspräsident Norbert Lammert. Der 8. Mai sei für den ganzen Kontinent ein Tag der Befreiung gewesen. "Er war aber kein Tag der deutschen Selbstbefreiung", betonte Lammert. "Unsere Gedanken und unser Respekt" gälten heute vor allem denen, die "unter unvorstellbaren Verlusten die nationalsozialistische Terrorherrschaft beendet haben, sowohl in den Reihen der westlichen Alliierten als auch auf Seiten der Roten Armee", so der Bundestagspräsident. 

"Würde jedes einzelnen Menschen achten"

Die Gedenkrede zum 70. Jahrestag hielt der Historiker Heinrich August Winkler. Er erinnerte an den Philosophen Ernst Cassirer, der Hitlers politische Karriere als "Triumph des Mythos über die Vernunft und diesen Triumph als Folge einer tiefen Krise" gedeutet hatte. Dieser Mythos sei immer da und warte auf seine Gelegenheit. Winkler ging auf "Ausbrüche der Fremdenfeindschaft" ein, wie sie Deutschland in den letzten Monaten erlebt habe. Gerade angesichts "beklemmender Aktualität" mahnten die Worte Cassirers "die eigentliche Lehre der deutschen Geschichte der Jahre 1933 bis 1945 zu beherzigen: die Verpflichtung, unter allen Umständen die Unantastbarkeit der Würde jedes einzelnen Menschen zu achten."

Laut Winkler hat der Sieg der Alliierten über Deutschland die Deutschen von sich selbst befreit. "Im Sinne der Chance, sich von politischen Verblendungen und von Traditionen zu lösen, die Deutschland von den westlichen Demokratien trennten."


Widerspruchsvolle deutsche Geschichte

Abgeschlossen sei die deutsche Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit nicht, "und sie werde es auch niemals sein". Jede Generation werde ihren Zugang zum Verständnis einer so widerspruchsvollen Geschichte wie der deutschen suchen. Zur Verantwortung für das eigene Land gehöre aber immer auch der Wille, sich der "Geschichte des Landes im Ganzen zu stellen. Das gelte für alle Deutschen und für die, die sich entschlossen haben oder noch entschließen werden, Deutsche zu werden", betonte Winkler. "Unter eine solche Geschichte lässt sich kein Schlussstrich ziehen."

Als "deutsche Verpflichtungen" hob Winkler die besonderen Beziehungen zu Israel und die Solidarität mit Ländern hervor, die erst 1989/90 ihr Recht auf innere und äußere Selbstbestimmung wiedergewonnen haben.

Der 76-jährige gebürtige Ostpreuße Heinrich August Winkler ist emeritierter Professor der Humboldt-Universität zu Berlin, wo er von 1991 bis 2007 Ordinarius für Neuere und Neueste Geschichte war. Sein Forschungs- und Lehrschwerpunkt liegt vor allem auf der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, der Weimarer Republik sowie auf der deutschen und internationalen Zeitgeschichte.

Zum Abschluss der Gedenkstunde betonte Bundesratspräsident Volker Bouffier, der 8. Mai 1945 verpflichte dazu, sich immer wieder deutlich zu machen, "dass in Deutschland kein Platz für diejenigen ist, die die Demokratie bekämpfen oder die Menschenrechte missachten."


Merkel in Dachau: "Erinnerung, die der Zukunft verpflichtet ist"

Vergangenen Sonntag (03.05.2015) hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel das ehemalige Konzentrationslager Dachau besucht, um an seine Befreiung vor 70 Jahren zu erinnern und der Opfer zu gedenken. Dort betonte Merkel, die Erinnerung an die Gräueltaten des Nazi-Regimes sei eine Erinnerung, die der Zukunft verpflichtet sei. So dürften die Augen nicht vor antisemitischen Hassparolen und Übergriffen sowie terroristischen Anschlägen verschlossen werden. "Wir sind dazu aufgerufen uns klar zu machen, dass jüdisches Leben Teil unserer Identität ist, dass Diskriminierung, Ausgrenzung und Antisemitismus bei uns keinen Platz haben dürfen, dass sie entschlossen und mit der ganzen Konsequenz rechtsstaatlicher Mittel bekämpft werden müssen", so die Kanzlerin.

In ihrem Video-Podcast vom vergangenen Samstag (02.05.2015) warnte Merkel davor, einen "Schlussstrich" ziehen zu wollen. Es gebe keinen Schlussstrich unter Geschichte. Das Begehen von Gedenktagen gehöre für sie unauflöslich mit kontinuierlicher Schulbildung und auch kontinuierlichen Möglichkeiten der Weiterbildung zusammen.

Steinmeier in Wolgograd: "Nie wieder"

Außenminister Frank-Walter Steinmeier hatte am Donnerstag (07.05.2015) die russische Millionenstadt Wolgograd (ehemals Stalingrad) besucht, wo er mit seinem Amtskollegen Sergej Lawrow des Endes des Zweiten Weltkrieges vor 70 Jahren gedachte. Steinmeier erklärte: "70 Jahre nach dem unermesslichen Leid, das Deutsche über die Stadt gebracht haben, sind wir nicht mehr allein in der Erinnerung. Russen, Deutsche und alle Völker Europas verbindet ein gemeinsames "Nie wieder" und eine gemeinsame Verantwortung für den Frieden in Europa."

Kulturstaatsministerin Monika Grütters äußerte sich am Donnerstag (07.05.2015) zu den Nazi-Verbrechen. Zum zehnjährigen Bestehen würdigte sie das Holocaustmahnmal in Berlin. Dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas komme eine zentrale Bedeutung im Gedenken an das Unfassbare zu. "Der Ort ist vor allem eines: Der Ort ist gut, er ist wichtig, er ist Teil von uns geworden. Und er nicht mehr wegzudenken." Im Vorfeld hatte Grütters erklärt: "Sechs Millionen Menschen wurden ermordet, allein weil sie Juden waren, unter ihnen 1,5 Millionen Kinder. Ihre Ermordung war ein gezielter Völkermord, an dieses Menschheitsverbrechen muss für alle Zukunft erinnert werden."

Neue Erinnerungskultur durch Bundespräsident von Weizsäcker 

Zum 40. Jahrestag nannte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker den 8. Mai 1945 erstmalig einen "Tag der Befreiung". "Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft", sagte von Weizsäcker am 8. Mai 1985. Mit diesem in seiner Rede enthaltenen Aspekt der Befreiung vom Nationalsozialismus prägte das deutsche Staatsoberhaupt eine Kernaussage der Erinnerungskultur in der Bundesrepublik Deutschland. Nach dem Fall der Mauer 1989 und der deutschen Wiedervereinigung im Jahr 1990 wurde diese Befreiung auch für den Osten Deutschlands und die Staaten jenseits des Eisernen Vorhangs zur Realität - fast ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende.


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